Der Eiszapfen-Esel

Der Tag an dem der See schon gefroren war, kam mir wie eine Ewigkeit vor. Wie ich mühselig den Berg hinaufrutschte und dem Schnee das einte oder andere Knirschen entlockte. Die Luft war beissend kalt und der Nadelwald liess die Umgebung eindunkeln.
Die Zeit liess mein Gesicht altern; die Natur schien dies gleichgültig hinzunehmen. Nach dem letzten Aufstieg passierte ich noch einen schmalen Weg und kam aus dem Wald. Die Stille der Berge, die Erstarrtheit des weissen Sees liessen mich für einen kurzen Moment die Luft anhalten. Als ich keine Luft mehr bekam, begann ich wieder mit dem Atmen. Die nächsten zwei Stunden sass ich auf einem Steg und warf Steine auf die glatte Oberfläche, lag auf dem Rücken im Schnee und verpetzte ein Eichhörnchen beim Versteck spielen.
Am anderen Ufer bewegte sich etwas. Ein wenig zaghaft stand ich auf und versuchte aus der Entfernung zu erahnen, was es sein könnte. Noch nie hatte ich im Winter einen Menschen hier oben angetroffen.
Ein seltsames Gefühl breitere sich in meinem Magen aus. War ich nicht der einzige, der dieses unvollkommene Stück Erde zu dieser Jahreszeit aufsucht? Hatte die Individualität dieses Moments seine Magie verloren und mitsamt seiner Schönheit das Antlitz der Einzigartigkeit zerbrochen? Ganz so poetisch waren die Gedanken nicht, aber es ging in diese Richtung.
Ich hatte Glück. Es war nur ein Esel, der mich mit seinem überdimensionalen Kopf argwöhnisch beobachtete. Ich ging um das einte Ende des Sees und näherte mich dem pelzigen Besucher vorsichtig. Er schien erstarrt zu sein und machte keine Anzeichen zu fliehen. So standen wir zwei für eine gefühlte Ewigkeit am Rande dieses Gewässers und betrachteten, wie die Sonne langsam hinter den Gipfeln verschwand.
Da hob er seinen Kopf, drehte sich zu mir um und setzte sich langsam in den Schnee. Ich tat es ihm gleich und gab ihm insgeheim den Namen „Eiszapfen-Esel“. Für einmal hatte ich keine Zweifel daran, dass magische Momente im Leben Zufall sind.
Ich habe den Esel seit diesem Tage nie mehr dort oben gesehen und habe aufgehört nach ihm Ausschau zu halten. Nur die klirrend kalte Luft und die Eiszapfen, die wie Karrotten von den Tannen hängen, geben mit das Gefühl, nicht alleine hier zu sein!

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